Johannes 6,9

Der Junge liegt auf seiner Strohmatte auf dem Hausdach und starrt in den endlosen Sternenhimmel, die Bilder des Tages rauben ihm den Schlaf. Was für ein Tag!! Der fing schon ziemlich früh an, noch im Dunkeln ist er aufgesprungen, von dem Gedanken aufgeschreckt, zu spät zu sein, hat sich im Hosenbein verheddert und auf der Suche nach Halt einpaar Töpfe umgeworfen. Das Lamm bölkte schlaftrunken und vorwurfsvoll, sah aber offensichtlich keinen Grund aufzustehen.

"Mein Kind,- hört er die beruhigende Stimme der Mutter, - es ist noch mitten in der Nacht, leg dich wieder hin, ich werde dich schon wecken!"
„So, ich hab dir was zum essen eingepackt, der Tag wird lang, - weckt ihn dieselbe Stimme. Er reibt sich den Schlaf aus den Augen und sieht den Beutel vor der Tür.
„Mama, es ist viel zu viel, damit kann man ja tausend satt machen!“
„Ach ja,“ - erwidert seine Mutter unbeirrt und mit entwaffnendem Lächeln im Gesicht, - „und einen Wasserschlauch hab ich auch dazu gepackt. Vergiss nicht zu trinken bei der Hitze! Die starke Hand und der Segen Jahwes sei mit dir! Und sei ein Segen für die anderen!“
„Das sagst du immer!“
„Dein Freund wartet schon,
- wieder dieses unschuldige Lächeln, - ich freue mich schon darauf zu hören, was ihr erleben werdet!“
Sein Freund erzählt schon seit Tagen von dem Wanderprediger, dem Propheten, der Wunder tut, die nur Gott tun kann. Und was für Wunder! Lahme stehen verwundert auf und gehen nach Hause, Blinden schenkt Er das Augenlicht und segnet sie, Aussätzige werden rein und kommen wieder ins Leben, böse Geister fahren schreiend aus den Kranken, sogar den Sturm konnte Er stillen, erzählt sein Freund überzeugt, auch wenn du bei ihm eine leise Note des Zweifels heraushörst. Das übersteigt tatsächlich auch deine Vorstellungskraft.
Aber jetzt eilen die beiden Jungs zum bergigen Seeufer, dort versammeln sich schon Menschentrauben, es wird geschworen und gezweifelt, gehofft und gehasst, es ist laut. Die Menschenmassen.
„Dort ist Er mit den Jüngern!“
Alle strömen nach vorne, in dem Gedränge verliert er noch seinen Freund aus den Augen und sieht auf einmal einen unscheinbaren Mann in verschlissenen Kleidern, der mit geschlossenen Augen da steht, offensichtlich im Gebet.
„Jesus“ - hört der Junge von allen Seiten und ist total enttäuscht.
Keine Körperfülle, wie bei Saul, kein königliches Gewand, wie bei Salomo.
Keine Feuerflammen aus den Augen, keine Donnerstimme, vor der alles Böse fliehen muss.
Die Hände zeugen von harter Arbeit. Es sind keine Lehrerhände, das sieht er sofort.
„Vater, Ich danke Dir für all diese Menschen, die Du hierhin geführt hast, damit sie bei Mir Leben finden.“ - Jesus betet mit leiser Stimme und alles verstummt augenblicklich.
„Das Reich Gottes ist nahe gekommen, kehrt um und glaubt an das Evangelium der Gnade Gottes, - hört der Junge gefesselt zu - „glaubt, und Ich werde euch Frieden geben!“
Die Worte, die Gesten, die Augen des Predigers faszinieren ihn immer mehr.
Der Mann ist anders.
Der Junge kannte die Strenge des Vaters, die Überheblichkeit der Römer, die unnahbare Kälte der Pharisäer. Dieser Mann war voller Kraft, und doch zärtlich, voller Anmut und doch so nahbar. Seine Worte sind geheimnisvoll und faszinierend, vom Himmelreich, dass nahe gekommen ist, auch wenn der Junge Schwierigkeiten hatte, sich dieses Reich und sich in diesem Reich vorzustellen. Von der Gerechtigkeit Gottes, nach der sein Volk hungerte, von dem Evangelium der Gnade Gottes. Immer wieder ertönte lautes Stöhnen und Rufen der Kranken.
„Erbarme dich meiner, du Sohn Davids!“
„Deine Schuld ist dir vergeben! Dein Glaube hat dich errettet, danke dem Vater im Himmel und sündige nicht mehr..“
Mit unendlicher Geduld schaut dieser Mann die Kranken an, legt sanft seine Hände auf die Wunden, richtet auf und tröstet. Alle wurden geheilt. Der Junge kann es nicht fassen. Ein zarter Gedanke keimt tief in ihm auf: "Ist es nicht der Messias, von dem die Propheten gesprochen haben, auf den meine Großeltern gehofft haben? Kann es sein?"
Blinde können zum ersten Mal in die Tiefen des Himmels schauen, Taube hören zum ersten Mal ihren Namen, Menschen werden von ihren Ängsten frei, Gelähmte spüren zum ersten Mal den Boden unter den Füßen und der erste, dem sie auf Augenhöhe begegnen, ist der Messias. Der lang ersehnte Befreier seines Volkes, von dem schon der Prophet Jesaja sprach..
Er wischt den Gedanken wie eine lästige Fliege weg, der bleibt aber hartnäckig. Er kommt mit jedem Wort, das Jesus spricht, immer stärker auf, mit jedem geheilten Menschen wächst er, wie eine Welle breitet er sich in ihm aus. Der Erlöser Israels, ich stehe vor dem Heiligen Israels...
Der Junge ist zwischen Jubel und Weinkrampf gefangen, zwischen Hoffnung und Angst, aus diesem Traum zu erwachen, die Tränen laufen über sein verstaubtes Gesicht.
Keine Donnerstimme, dafür Worte des Trostes und der Annahme. Heilende Worte.
Kein sengender Blick, dafür Wärme und Liebe in Seinen dunklen Augen.
Keine wimmernde Geister, dafür geheilte und erlöste Menschen, die ihre Würde wieder bekommen haben.
Er merkt nicht, dass es Abend geworden ist, dass die kargen Bäume lange Schatten werfen, dass das laute Zirpen der Zikaden allmählich verstummt. Jetzt erst wird ihm bewusst, dass er noch nichts gegessen hatte!
Der Junge lauscht einem kurzen Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern, es geht um das Essen für die vielen Menschen.
Alle setzen sich und jetzt erst merkt der Junge, wie viele es sind.
Noch nie hat er so viele unterschiedliche Menschen gesehen.
„Gibt ihr ihnen zu essen!“. Hört er die vertraute Stimme.
Blankes Entsetzen in den Augen der Jünger, Ratlosigkeit in den Gesichtern, es ist viel zu wenig da. „Ich habe Brot und Fische dabei!“ - ruft der Junge ihnen zu und streckt ihnen den Beutel im Laufen entgegen, - „ich hab sie mit meinem Vater geangelt!“
Jesus nimmt das Essen aus seinen Händen, ein kurzer Blick, ein kurzes Gebet. Er bricht das Brot, verteilt die Fische an die Jünger, und die geben in die ausgestreckten Hände weiter, immer weiter... Der Junge sieht sich um und ist erstaunt, dass die meisten Menschen das göttliche Wunder, das gerade vor ihren Augen geschieht, gar nicht wahrnehmen, es interessiert sie offensichtlich auch nicht. Sie wollen satt und gesund werden.
Wieder dieses laute Getöse. Die Menschen neben ihm lachen, plaudern und machen es sich auf dem Gras bequem. Der Junge sieht sich um. Neugierige, gelangweilte, ungeduldige Blicke. „Wieso sieht ihr denn nicht, was hier gerade geschieht??!!“
Ein stummer Schrei erstickt in seiner Kehle, - „wieso sieht ihr das denn nicht?“
Der Junge steht noch eine ganze Weile, die Hände vor dem Mund, ein seltsamer Schmerz schnürt seine Brust zu, eine Enge, die er überhaupt nicht zuordnen kann, eine Mischung aus Enttäuschung und Wut. Noch nie fühlte er sich so hilflos, so allein.
„wie hätten sie ihren Fisch gerne?“ - es ist Jesus, in Seinen Augen tanzt der Schabernack. „Mit Brot und Gemüse bitte,“ - erwidert der Junge schlagfertig. Beide lachen erheitert, und genießen den unbeschwerten Augenblick des Friedens und der Nähe.
Jesus schaut ihn kurz an, die Augen sind ernster, noch dunkler.
„Ich verstehe dich. Ich weiß, was du fühlst.“
"Es wird viel passieren, was die Menschen noch nicht sehen können“
, seine Stimme klingt leicht heiser - „Es muss noch viel passieren, was dir Angst machen wird.
Es wird noch das größte Wunder geschehen, dass den Menschen Frieden mit Gott schenken wird. Nicht nur diesen, tausenden anderen auch. Vergiss nicht, wie groß Jahwe ist.
Bei Ihm ist nichts unmöglich. Und du musst dich nicht fürchten, ich bleibe an deiner Seite. Auch wenn du mich nicht sehen wirst.“

Jesus teilt mit ihm ein Stück Fisch und Fladen und zeigt auf einen Grasbüschel neben sich.
Der Junge schaut fast erstaunt auf den Fisch und das Brot, nimmt sie dann vorsichtig entgegen, wie ein kostbares Juwel, die so vertrauten Speisen, und doch Zeugen eines unfassbaren Wunders.
„Deine Mutter ist eine tolle Köchin, richte ihr einen großen Dank aus!“
Das Essen nach einem langen Tag tut ihnen gut.
„Ich danke dir für dein Vertrauen und deinen Glauben, mein Sohn. Du hast mir alles gegeben, was du hattest, und tausende Menschen beschenkt. Du warst heute ein Segen für all diese Menschen!“ „Und jetzt lauf nach Hause, deine Mutter sorgt sich schon um dich!“
Die Beine tragen den Jungen wie im Flug nach Hause.
„Mama, du wirst es nicht glauben,“ - platzt es aus ihm schon von der Straße heraus, - „Der Messias ist da, ich hab ihn gesehen und gehört, Er hat über das Himmelreich gesprochen, ich hab gesehen, wie Er Kranke geheilt hatte, Mama, Er hat sie alle geheilt! Und ich war heute ein Segen für die anderen Menschen, wie du immer gesagt hast, und Er hat mit deinen Broten und Fischen sooo viele Menschen satt gemacht, ich hab es selbst gesehen! Und ich sollte dir einen Dank von Ihm ausrichten, und Mama, der Fisch war noch nie so lecker!“
„Das freut mich, mein Kind,
- entgegnet seine Mutter ruhig und zerzaust ihm liebevoll die wilden Locken, - „du vergisst ja zu atmen! Es ist schon spät, du kannst es uns morgen erzählen, die anderen sind schon im Bett.“
„Darf ich draußen schlafen?“
„Sicher, ist auch noch sehr warm im Haus. Wie heißt denn der Messias?“

„Jesus von Nazareth“